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Osttibet mit allen Höhen und Tiefen
Geschrieben von: Lutzi   
Mittwoch, 26. April 2006 um 09:25
Ja, die letzten drei Wochen sind wir vor allem den Wetterkapriolen des Aprils weiter ausgeliefert und macht jegliche Planung spannend. Unsere Motivation beruht natürlich hauptsächlich auf gutem Wetter mit toller Aussicht auf mächtige Schneeberge inmitten von ursprünglichem Wald. Es kostet uns wirklich jede Menge Energie, immer wieder aufs Neue zu hoffen und trotz oft schlechten Wetters weiterzureisen bzw. die notwendige Ruhe und Gelassenheit mitzubringen, in irgendwelchen Dörfern abzuhängen und auszuharren.
Trotz all den widrigen Umständen gehört Osttibet sicher zu den interessantesten Gebieten, die ich bisher bereist habe. Auch wenn wir eben nicht immer die genialste Aussicht hatten, bleiben mir die Begegnungen mit den sehr freundlichen Tibetern haften, und natürlich die Freude an den kleinen Dingen des Lebens, Momente und Augenblicke, die ich hier leider nur schwer wiedergeben kann.
Nahe Deqin übernachten wir an einem Viewpoint. Von hier soll man den besten Blick über das gesamte Meili-Gebirge haben. Gut, dass sich hier ein cleverer Chinese samt einer sehr lässigen Kneipe und feinem Restaurant niedergelassen hat. So harren wir der Dinge am warmen Ofen sitzend, Capuccino trinkend, Bildbände (mit feinsten Sonnenaufnahmen!) blätternd - und tatsächlich haben wir am anderen Morgen Glück. Manche Wolkenlücke zeigt uns die interessanten Bergspitzen des gewaltigen Massives. Bei der anschließenden langen Abfahrt in das Mekong-Tal können wir auch den tiefsten Gletscher Chinas sehen, der bis fast in den Mekong reicht. Der Mekong präsentiert sich hier als ein relativ kleiner Gebirgsbach, türkisblauschimmernd, und hat so gar nichts gemein mit der braunen und langsam dahinfließenden Brühe in Laos, Kambodscha und Vietnam! Im Mekongtal selbst geht es eher ruppig zur Sache und so mancher Bergrutsch zeigt, dass die steilen Hänge lange Regenphasen niemals Stand halten können. Mich fasziniert die Schlucht, welche immer wieder von hübschen Dörfern umgeben von ihren grünleuchtenden Feldern, unterbrochen wird. Oft liegen diese Häuseransiedlungen auf der anderen Flussseite und sind nur durch kilometerlange Fußmärsche erreichbar! Der abendliche Rückenwind treibt uns gen tibetischer Grenze und bevor es schlussendlich heftig zu regnen beginnt, finden wir eine simple Unterkunft bei netten Tibetern, Abendessen mit frittiertem Fett und Reis inklusive. Die nahe Grenzlinie des TAR (Tibetische Autonome Region) überqueren wir ohne Probleme, die Polizisten winken uns sogar. Leider hat sich Thomas Magenprobleme eingefangen und so stoppen wir in dem Städtchen Yanjing, das bekannt ist für den größten Salzabbau in Tibet. Zu den Hot Springs können wir uns jedoch nicht aufraffen, dafür erkunde ich nachmittags das Städtchen und finde mich alsbald zwischen Schülern wieder. Im Chinesisch-Tibetisch-Englisch - Kauderwelsch bringen sie mich zu ihrer Schule und stellen mich ihrem Lehrer vor. Der ist vielleicht aufgeregt gewesen! Und all seine Schüler im Hintergrund grinsen frech. Wie sie hier Englisch beigebracht bekommen sollen, ist mir ein Rätsel, wenn ihr Lehrer schon nix kann! Zu allem Überfluss spricht der Lehrer kein Tibetisch und die Schüler kaum Chinesisch.
Der morgendliche Blick aus dem Fenster verheißt nichts Gutes. Trotzdem, die Schneegrenze vor Augen, starten wir los. Folgende intensive Eindrücke bleiben mir haften: eine 'Motorradgang' samt Kind und Kegel, die von der anderen Talseite zum Baden kommt; die katholische Mission, deren Kirchturm im tibetischen Baustil erstrahlt und mit viel Kitsch aufwartet; Tiefblicke auf den bald 1000m tiefer liegenden Mekong; Schockipausen; eine neu erbaute Brücke im Golden-Gate-Stil. Thomas kämpft sich tapfer hoch und schlussendlich quartieren wir uns im Schneeregen in einem tibetischen Haus ein. Mit uns übernachten dort noch drei Mönche und so haben wir genügend Unterhaltung, kochen unser Essen in ihrer warmen Stube und breiten unsere Schlafsäcke vor dem Fernseher aus. Kein Problem für sie und uns. Gut, dass so mancher Sonnenstrahl immer wieder durch die Wolkendecke stößt als wir die letzten Höhenmeter auf den HungLa (4200m) erklimmen. Oben haben wir zwar keine Sicht, aber bei der Abfahrt sind wir schon bald unter den Wolken und wir genießen den langen Downhill in ein wunderschönes Tal, das mit tollen Farbspielen aufwartet. Spätnachmittags erreichen wir Markham, eines der kritischsten Stellen der gesamten Osttibetreise, da sich hier ein wichtiger Checkpoint befindet. So kaufen wir nur kurz im Supermarkt Schokolode und andere Leckereien ein, kehren bei Tibetern ein und verstecken unsere Räder, wollen wir doch nicht von der PSB (PublicSecurity) entdeckt werden. Irgendwie wusste eigentlich sowieso jeder, dass wir nach Lhasa wollen, aber hier wird man fast zum Lügen gezwungen und unsere Antwort lautet kategorisch: no, Chengdu! Nachts stellen wir unser Zelt nur wenig außerhalb der Stadt auf und eine kurze Nacht liegt vor uns, wollen wir doch frühmorgens den Schlagbaum queren, solange noch kein Polizist Wache hält.

Mit Stirnlampen bewaffnet und warm angezogen ist das Queren kein Problem - abgesehen von einigen uns nachjagenden Hunden, die wir in der stockdunklen Nacht nur immer zu spät wahrnehmen können. Kurz darauf sehen wir zwei weitere Lichtkegel hinter uns. Die beiden radelnden Franzosen Christophe und Romain holen uns ein und begleiten uns ab diesem Zeitpunkt rund zwei weitere Wochen bis nahe Bayi. Zum Sonnenaufgang befinden wir uns am LaoShan-Pass und wir werden mit eindrucksvollen Szenerien sowie mit der  ewig anmutenden Abfahrt erneut zum Mekong belohnt. Schnee oben, Frost über den Wiesen, violettleuchtende Felsen, grüne Oasen, winkende Kinder. Nach einer kurzen Aufwärmpause (hier hab ich mir leider die Füße verfroren), tief unten im Canyon, wartet schon der nächste und höchste Pass mit über 5040m auf uns. Ebene Strecken gibt's hier kaum, und für die anstehenden 70 km Auffahrt ist es gut, dass Thomas Südtiroler Speck und Schüttelbrot dabei hat! Als wir an einer schönen Stelle am Aufstieg gemeinsam campen, waren wir natürlich die Hauptattraktion, und die Tibeter begutachten unsere Ausrüstung wie Kocher, Zelt usw. ganz genau. Sie stehen mit ihren roten Bändeln ins Haar geflochten da, die Kinder mit ungewaschenen Gesichtern. Die Begegnungen sind für mich immer wieder die schönsten Szenen und Momente.
Abends rollen wir vier nebeneinander wie Wildwestcowboys in Zuogong ein, der Wind pfeift durch die einzige Hauptstrasse und man gafft uns nach. Nur einige Mutige rufen uns einen Gruß zu! Nach langem Hin und Her finden wir eine geeignete Unterkunft für den Standardpreis von 10 Yuan (rund 1 Euro). Eine Flachetappe - immer am YuChu-Fluss entlang - steht uns nach Bamda bevor. Ein schöner Tag und so gönnen wir uns eine ausgedehnte Rast am Flussufer und legen einen Waschtag  ein. In dieser Gegend sehen wir, was Teamwork ist. Man hilft zusammen, wenn neue Häuser gebaut werden, die Lehm- und Strohwände werden in mühevoller Kleinarbeit mit Holzstempeln gestampft, prachtvoll geschnitzte Fenster- und Türrahmen eingebaut, man singt dazu und jeder scheint zufrieden zu sein.

Der GamaLa ist ein besonderer Pass. Flugs sind wir auf der Passhöhe und vor uns liegen rund 40 km und 2000 Höhenmeter Abfahrt hinunter zum Salweenfluss, gespickt mit 70 Kehren. Fließt der Mekong in Richtung Südostasien, zieht der Salween gen Indien. Oben noch dick eingepackt, brauchen wir in der karakorumähnlichen Schlucht nur mehr die kurzen Trikots. (Ach ja, und da habe ich in Markham doch glatt meine Sonnenbrille liegen gelassen. Und die von einem Tibeter abgeluchste 30 Centbrille hält auch nicht ewig, weshalb ich mit Ducktape bandagierten Brille umherziehe - sehr zum Gespött meiner Radkollegen).
Mit viel Gegenwind, aber entlang rotglühender Felswände (wie in Ladakh) radeln wir in Pasho ein. Wir genehmigen uns ein Zimmer mit Dusche und da es Internet im Städtchen hat, landen wir abends dort. Nun, nicht lange, denn die sonst uns freundlich zuwinkenden Polizisten stehen auf einmal hinter uns: Passport, Permit, please! Was ist ein Permit? So ein Mist, jetzt sind wir doch dran! Sie warnen uns eindrücklich, dass wir den Weg nach Lhasa nicht einschlagen dürfen, ansonsten würden sie uns schon finden. Die Verwarnung sitzt und in unseren Köpfen geistern einige Varianten, wie wir unser Ziel weiterverfolgen können. Das morgendliche Davondüsen wird uns mit einer verschlossenen Hoteltüre und Dauerregen vereitelt. So setzen wir (nachdem ich meine gebrochene Speiche repariert habe) alles auf eine Karte und radeln schlichtweg mit kleinen Umwegen gen Lhasa aus der Stadt. Noch mal gut gegangen, obwohl wir noch einige Male zusammenzucken, wenn uns anderntags wieder mal Polizeiautos überholen. Gut, dass hier nur wenige Beamte Englisch können.
Den anstehenden langgezogenen Pass verkürzen wir mit diversen Traktoren, die uns einige Kilometer ziehen. Ein unerwarteter Schneesturm vereitelt uns ein lockeres Vorwärtskommen. Da hier zudem die Wetterscheide in den feuchten subtropischen Bereich liegt, fällt umso mehr Schnee, je tiefer wir kommen. Schlagartig finden wir uns im tiefsten Winter wieder. Mit dem Einbrechen der Dunkelheit schlittern wir in das erste Guesthouse in Rawok. Was wir zu diesem Zeitpunkt nicht wissen ist, dass wir hier noch zwei weitere Tage festsitzen werden. Über Nacht schneit es uns sage und schreibe ein! So bauen wir anderntags eben einen riesigen Schneemann, liefern uns mit Chinesen und Tibetern diverse Schneeballschlachten, stapfen knietief zu einer nahen Bön-Gompa und dem nahen türkisblauen See! Die große Lebenskunst ist wirklich, nichts zu erwarten und gelassen zu warten.
Bevor es noch winterlicher wird, entschließen wir uns am dritten Tag trotz schneebedeckter Strasse, die bald zu einer Matschpiste wird, aufzubrechen. Etliche Lawinenkegel, die zum Teil in den Fluss und auf die Piste reichen, zeugen von den instabilen Hängen. Sobald die Sonne durchbricht, sehen wir die irre Landschaft mit subtropisch eingeschneitem Wald, Papageien auf über 3000 m, jede Menge Lammergeier, wunderschöne friedliche Dörfer und bunte im Wind flatternde Gebetsfahnen. Als es abends wieder heftig zu schütten beginnt, sind wir um eine Unterkunft bei Bauern froh. Sie bieten uns vier pudelnassen Radlern ein leerstehendes Zimmer an und wir können zudem auf ihrem Ofen noch eine feine Nudelsuppe kochen und unsere Klamotten trocknen. Grosse Schneeflocken begrüßen uns wieder mal zum Morgen. Hilft ja nix! Ich bin froh, dass uns Christophe ein wenig antreibt. Aber ich erfahre auch, wie nahe Motivation, Freude und Frustration beieinander liegen. Ist es doch wirklich schade, wenn wir ausgerechnet im landschaftlich beeindruckendsten Gebiet Tibets so ein mieses Wetter haben. Trotzdem habe ich noch an jedem Tag Freude. Besonders als Thomas am Abend einen guten Riecher hat und wir eine geniale Felshöhle zum campieren finden. Sogar eine Feuerstelle und Schlaflager finden wir vor. Als das nasse Holz endlich zündet und unsere Grotte regelrecht ausräuchert, fühlen wir uns wirklich wie Hirten - wie passend zum Ostersonntag! Dieser idyllische Platz hebt unsere Stimmung. Auch die nachfolgende Strecke ist landschaftlich super, geht es oberhalb eines Brahmaputrazuflusses entlang, canyonartig mit tollem Wald - so intensiv habe ich den Frühling schon lange nicht mehr erlebt.
Für den Serkhym La benötigen wir nochmals einen guten Tag Anstieg und im Nebel hänge auch ich meine Prayerflags (Gebetsfahnen) zu dem bunten Fahnenmeer dazu, bevor wir in das Nyingi-Gebiet hinunterbrausen. Wir befinden uns kurz vor Bayi, und da Christophe und Romain schon bald aus China ausreisen müssen, trennen sich hier unsere Wege.
Wir legen am traumhaft schön gelegenen Drawok-Tso (einem fast alpin anmutenden See) einen wohlverdienten Rasttag ein. Unser Zelt bauen wir am Strand unter blühenden Rhododendren auf, bartflechtenbehangene Bäume umgeben uns und wir lassen unseren Blick über die 6000er Berge schweifen. Den letzten Pass Mi La mit 5020m und die fehlenden Kilometer auf Lhasa schaffen wir sehr flott, sehen Tibeter ihre Felder pflügend, Mist mit den Schaufeln ausbreitend, unzählige neue Dörfer bauend und so rollen wir glücklich und lachend und vor Glück weinend am 24. April in Lhasa ein.
Es ist wieder ein unbeschreibliches Gefühl den Potala zu sehen, vor ihm zu stehen und die Stimmung der vielen Pilger einzufangen. Apropos Pilger: in den letzten Tagen haben wir immer wieder Pilger gesehen, die meistens aus der entlegenen Region Amdo stammen, wie sie sich niederwerfend gen Lhasa nähern! Zwei junge Tibeter sind mit ihren Vätern als Begleitung schon 14 Monate unterwegs und haben noch immer 6 Wochen vor sich! Wir sind davon so beeindruckt, dass wir gern die Einladung zum Tee und einer Rast entgegennehmen. Ich spüre ehrliches Interesse an uns, wir studieren gemeinsam Karten, erklären uns, zeigen Bilder. Trotz ihren tagtäglichen unsäglichen Anstrengungen, strahlen sie eine unglaubliche Zufriedenheit aus. Auch ich empfinde für mich dieses Gefühl, habe ich doch wieder ein Stück meines Traumes erfüllt, auch wenn es ganz anders gekommen ist als gedacht. Tashi delek!